Vielleicht haben Sie Zeit und Lust, sich mit meinen Gedanken zu den Arbeiten zu befassen, die ich in der Ausstellung Rückweg und Pause in der Leipziger Galerie b2_ zeige. In einem kurzen Rundgang möchte ich meine Überlegungen hier skizzieren.
Die Künstlerbücher und Publikationen am Eingang begleiten seit 1994 meine Theorie und Praxis. Sie werden zusammen mit zwei Neuerscheinungen, Photogenic-, Work- and B-Sites und Autobiografisch 1/2 (beide 2021) – Aufarbeitungen zurückliegender Projekte in Beirut, Köln, Berlin, Neapel und Rom – in einem selbstentworfenen Regal zur Ansicht und Lektüre präsentiert.
Beim Betreten des b2_-Raums fällt der Blick geradeaus auf die Wand mit einem bodenlangen weißen Gardinenstoff, der auf ganzer Breite durch aufgenähte Schnüre strukturiert ist und auf dem ein kleiner Monitor ein Video abspielt. Diese Arbeit, Rückweg und Pause, die der Ausstellung den Titel gibt, entstand während der Pandemie unter dem Arbeitstitel Endloser Faden in Heim-/Handarbeit. Das Video zeigt ein Splitscreen-Format aus Fullscreen mit zwei rechts und links montierten kleineren Screens. Darin wird in Parallelmontage die Zerlegung von sechs verschiedenen Elektronikschnüren – Hilfsmitteln der medialen Arbeit und globalen Kommunikation – gezeigt. Die Metall- und Plastikfäden des Kabelkerns werden manuell aus ihrer Ummantelung gelöst. Dies ist überraschenderweise spannend – wer kennt schon das Innenleben von Antennen-, Firewire- oder Glasfaserkabeln? – und irritiert zugleich als Sisyphosarbeit. So bezeichnet der Titel Rückweg und Pause die Situation, wenn Sisyphos den Berg wieder hinuntergehen muss – für Albert Camus die Stunde des Aufatmens und des Bewusstseins inmitten einer endlosen Qual. Dieser Grenzbereich zwischen Knechtschaft und Befreiung fungiert als narrative Folie der gesamten Ausstellung.
Die demontierten Kabel dienen als Material, mit dem ich auf dem Vorhangstoff die Weltkarte der Unterseekabel veranschauliche. Die Kabel wurden per Hand aufgenäht und entlang der Routen fixiert. Die Karte zeigt Dinge, die objektiv bekannt sind und hier subjektiv formuliert werden. Das Video läuft auf einem alten Monitor, den ich auf ein noch älteres Schreiner-Werkstück montiert habe, das ehemals als Klappe des Radio- und Plattenspielerfaches im Wohnzimmerschrank meiner Eltern diente.
Die Notwendigkeit von Recycling ist allgemein bekannt. Die Arbeit verweist auf den Kontrast zwischen einer vermeintlich unsichtbaren Super-IKT-Infrastruktur aus Metaplattformen, Rechenzentren und Unterseekabeln (es gibt derzeit ca. 426 Unterseekabel mit einer Gesamtlänge von ca. 1,3 Millionen Kilometern) und der Zero-Waste-Philosophie kapitalistischer Gesellschaften. Die Arbeit besteht zu 100% aus recycelten Materialien und kann daher als klimaneutral gelten. Die Lieferkette des Gardinenstoffs – der Rest eines Vorhangs, den ich für meine Arbeit Human Capital Market 2010 in einer römischen Gardinenmanufaktur kaufte – und die (Arbeits-)Bedingungen, unter denen der Stoff in Italien oder China produziert wurde, sind nicht bekannt, ebenso wenig wie die Lieferketten der obsoleten Kabel. Einige der älteren sind noch Made in Germany, die neueren Made in China oder ohne Angabe. Das Recycling solcher Materialien wird von uns entweder in Niedriglohnländer ohne Umweltstandards verlegt, oder sie werden staatlich subventioniert in aufwändigen Verfahren nur teilweise für die Rohstoffkreisläufe gesichert.
Im Workflow der Demontage, die die Material- und Strukturvielfalt der Kabel und Schnüre freilegte, entdeckte ich, dass eine zusätzliche Verwertung den Aspekt der Immaterialität erfassen konnte, den die Ausstellung thematisiert. Dazu habe ich mit einer Lichtquelle einen Schatten der von mir zerlegten Gegenstände auf lichtempfindlichem (Foto-)Papier erzeugt. Für Moholy-Nagy ist das Fotogramm aus dem analogen Fotolabor ein Blick ins Universum – hier das Universum der Unterseekabel und der digitalen Vernetzung. Auf die Beschleunigung digitaler Datenströme antwortet das Unikat des Fotogramms mit Entschleunigung und Einmaligkeit.
Auch in der Installation Und warum? Oder warum nicht? verschränken sich reale Dinge, gefundene Fotografien und Filme – aus dem Nahen Osten und aus meinem Lebensumfeld – als Versatzstücke, die von alltäglichen Handlungen, Erinnerungen und Plänen erzählen. Assoziativ umreißen sie Gegensätze wie sozialen Zusammenhalt und Destruktion, Krieg und Frieden, Spiel und Ernst. Alle Dinge könnten von gesicherten Lebensumständen, aber auch von deren Verlust zeugen. Das Zusammenwirken einer Filmsequenz, in der Kinder (meine Geschwister und ich Anfang der 1960er Jahre) in einer scheinbar behüteten Umgebung spielen, und einer Found-Footage-Fotografie aus einem möglicherweise militärischen Kontext, die am Boden lagernde und ihren Proviant verzehrende Männer zeigt, wirft Fragen auf: nach der Zerbrechlichkeit der Conditio humana, die von Frieden, Wohlstand, Sicherheit abhängt, und nach den jederzeit möglichen Erschütterungen dieser Koordinaten der Existenz.
Im Kabinettraum der Galerie führt schließlich die Fotoserie Ohne Titel (autobiografisch) 47 dokumentarische Schwarzweißaufnahmen aus meinem Lebensumfeld der 1970er und 1980er Jahre zusammen, darunter auch Fotos von Friedensdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa. Diese Szenerien schlagen einen Bogen zur Gegenwart, zu den Demonstrationen von Fridays for Future und im Hambacher Wald als Wiedererwachen des politischen Aktivismus. Aus meinen Fotos dieser Demonstrationen entsteht, zusammen mit Aufnahmen meiner damaligen Umwelt, eine persönliche Collage, deren Wirkung über das rein Subjektive hinausweisen soll. Die Arbeiten der Ausstellung navigieren in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Situationen, die vermeintlich so gegensätzlich sind wie mein persönliches Umfeld und die globalisierte Ökonomie der „Neuen Kriege“, wie Recycling oder Hand-/Heimarbeit und globale mediale Räume und Netzwerke. Als eine Art transhistorischer Collage vermittelt Rückweg und Pause die Erfahrung, dass Recycling nicht nur eine Wiederverwertung von Rohstoffen, sondern zugleich eine Form von Spurensuche und Spurensicherung ist. (Text: Doris Frohnapfel)