MENGEN UND TEILE

[…] Mit der subtil-anarchischen, aber höchst präzisen Dekonstruktion wissenschaftlicher Verfahren hat Doris Frohnapfel ihr halb reales, halb fiktives Grabungsprojekt in der Ausstellung im KERAMION Frechen fortgesetzt und um einige Komponenten weiter ausgebaut. Dabei spielt nicht nur die in Archäologie und Kunstgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Methode des „vergleichenden Sehens“ eine wichtige Rolle, sondern auch die in den Wissenschaften relevante Praxis des Bezeichnens und Messens. In der Ausstellung finden sich sieben Aluminiumtabletts, die auf dem Boden so arrangiert sind, dass sie mit den Maßen 59 x 89 Zentimeter jeweils eine Fliese bedecken; in diesen Bodenvitrinen sind die unterschiedlichen Scherben übersichtlich, aber in unregelmäßiger Verteilung gruppiert. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von Scherben aus dem Depot des KERAMION, wo ergrabene Scherben und Fundstücke aus der regionalen Keramikproduktion gelagert werden. Diese Frechener Scherben aus der Zeit seit dem 16. Jahrhundert bilden in Frohnapfels Installation aber keine eigene Familie, sondern sind mit Scherben vereint, die von drei anderen Orten stammen: vom Monte Testaccio in Rom, vom Fockeberg in Leipzig, und die dritte Provenienz ist laut Frohnapfel ein nach 1945 aus Kriegsschutt aufgehäufter Trümmerberg in einer Parkanlage in Mailand, der den Namen Monte Stella trägt. Berührt die Herkunft der Fundstücke den zivilisatorischen Prozess der Schichtenbildung und den buchstäblichen Sinn des Wortes Geschichte, suggeriert Frohnapfel mit dem Nebeneinander der Scherben systematische Vergleichbarkeit. Diese läuft allerdings absichtsvoll ins Leere, denn Hinweise auf weitere an den Scherben abzulesende kulturelle und historische Zeichen fehlen. Das „vergleichende Sehen“ schärft hier vor allem anderen die Wahrnehmung der konkreten Form. Aus ihrer ursprünglich funktionalen Gestalt heraus gebrochen, entfalten die Scherben ein Eigenleben; sie artikulieren ein Spektrum von abstrakten Formen, die, und das macht sie besonders interessant, als Resultate des bloßen Zufalls anzusehen sind.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet, fällt dieses Spektrum der autonomen Formen aber schnell wieder in sich zusammen, was die beiden anderen Ausstellungsbeiträge belegen. Da ist zunächst die Serie mit den 18 gerahmten Schwarz/Weiß-Fotografien, die in einer Reihe an einer eigens in den Raum eingezogenen Wand installiert sind. Die analog aufgenommenen, auf kostbarem Barytpapier abgezogenen Fotografien zeigen in einer Mischung aus nostalgischer Dokumentationsfotografie und serieller Konzeptkunst einzelne hölzerne Archivkisten aus dem Frechener Depot, in denen die Scherben aufgehäuft sind. Dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, wird schließlich im dritten Teil der Ausstellung von Doris Frohnapfel deutlich. In starkem Kontrast zum wissenschaftlichen Gestus der nüchternen Schwarz/Weiß-Aufnahmen sind die Frechener Scherben nun zu einer plakativen Farbtafel komponiert. Stück für Stück wurden die einzelnen Scherben digital fotografiert, im Rechner bearbeitet, als farbige Inkjetprints in Gruppen von je 40 Abbildungen ausgegeben und auf sieben Tafeln aufkaschiert. Mit den flächendeckend und Wand füllend montierten Prints hat Doris Frohnapfel das Spiel mit der Wahrnehmung abstrakter Formen noch eine Stufe weiter getrieben. Als flächige Kürzel sind die Scherben ihrer keramischen Materialität und ihrer Körperhaftigkeit vollständig entledigt. Die Grenze zwischen Abstraktion und Information ist fließend. Im modularen Wechsel von Form und Farbe in 280 unterschiedlichen Konstellationen ist das einzelne Motiv in einen quasi ornamentalen Rapport eingebettet und doch in seiner Einzigartigkeit erkennbar. Die schiere Menge und die effektvollen Farbkontraste laden den Blick zum Schweifen, Vergleichen und Schwelgen ein. Man meint, hier ein Lehrbuch vor sich zu haben, das zum reinen, puren Sehen von Farbe und Form verführt, und das einem gleichzeitig beibringt, dass das reine, pure Sehen von Farbe und Form nichts anderes ist als eine Fiktion, da man sich im lichterfüllten Ausstellungsraum einer Plakatwand gegenübersieht, auf der eine Auswahl der historischen Frechener Scherben in stilisierter Form und suggestiver Farbigkeit in die Gegenwart strahlt.